Was Stadtplaner vor 5 Jahren ersonnen:
Teil 1: "Wir machen einen Plan!"
maxe. Im April des Jahres 2014 beschlossen die Eberswalder Stadtverordneten das "Integrierte Stadtentwicklungskonzept" (INSEK), welches - auf Grundlage gesicherter Daten - die Handlungsleitlinien für die städtische Entwicklung der nächsten 20 Jahre festsetzte.
Eine wichtige Datengrundlage bot die Einwohnerstatistik. So wurde im Brandenburgischen Viertel ein Einwohnerschwund von 100 Bewohnern pro Jahr beobachtet, resultierend aus natürlichen Verlusten (mehr Todesfälle als Geburten) sowie Wanderungsverlusten. In Finow waren es 70 Bewohner weniger pro Jahr. Für die vergangenen Jahre wurde festgestellt:
"Die Stadtmitte generiert die stadtinternen Wanderungsgewinne insbesondere aus den Stadtbezirken Brandenburgisches Viertel (+300 EW) sowie Finow (+70 EW), verliert aber gegenüber Ostende (-100 EW) und Nordend (-40 EW). Mit Abstand die schlechteste Wanderungsbilanz weist der Stadtbezirk Brandenburgisches Viertel auf, der insbesondere an Finow (-150 EW) und Westend (-80 EW) Einwohner verliert." (INSEK Seite 24)*
Leitbildszenario der Stadtentwicklung
Die Entwicklung der Einwohnerzahlen der letzten 10 Jahre (gelbe Linie, siehe nachfolgende Abb.) nahmen die Stadtplaner zum Anlaß, zwei mögliche Prognosen bis zum Jahr 2030 zu entwerfen. Die optimistische Variante ging davon aus, daß Eberswalde im Jahr 2020 38.470 Einwohner und im Jahr 2030 34.400 Einwohner haben wird. Diese "günstigere" Variante wurde zum Leitbild erklärt.
Zum positiven Leitbild gehörte außerdem, daß sich die arbeitsplatzbezogenen Abwanderungen minimieren und sich Eberswalde als attraktiver Arbeits- und Wohnort profilieren kann. Weiter wurde vermutet: "Die suburbanisierungs- bedingten Einwohnerverluste in Nachbarämter/-gemeinden können weiter minimiert werden, wozu auch attraktive Angebote zur Wohneigentumsbildung in den innerstädtischen Quartieren sowie in attraktiven Lagen am Finowkanal beitragen." (INSEK Seite 27)
Der Zuzug von älteren und in der Mobilität eingeschränkten Personen aus dem ländlichen Raum
resultierend aus zunehmenden Versorgungsdefiziten werde weiterhin anhalten. Und obwohl die Planer sich wünschten, daß "Eberswalde sich als Wohnstandort für Berliner Nachfragegruppen etabliert, die urbane Wohnformen in gut erreichbaren, attraktiven Klein- und Mittelstädten der Metropole vorziehen", wurde einleitend ernüchternd festgestellt:
"Die räumliche Entfernung der zentralen Orte im weiteren Metropolenraum ist heute als Entwicklungshemmnis zu sehen - trotz der deutlich verbesserten Erreichbarkeiten der Hauptstadt. Mit dieser räumlichen Entfernung - und den resultierenden Fahrzeiten/-kosten - relativieren sich die Kostenvorteile des Wohnens, eine relevante Nachfrage aus dem Berliner Raum hat sich bisher nicht gezeigt." ("Der Brandenburger Blick" - INSEK Seite 12)
Die Altersstruktur der Bevölkerung
Im Jahr 2014 gingen die Planer davon aus, daß sich das Durchschnittsalter in der Gesamtstadt von 46 Jahren auf 47,8 Jahre im Jahr 2020 und 50,3 Jahre im Jahr 2030 erhöhen wird. Die Nachfragestrukturen werden sich verändern und die älteren Menschen werden als Konsumentengruppe zunehmend eine größere Rolle einnehmen. (INSEK Seite 30)
Die jüngsten Stadtteile mit den prozentual stärksten Gruppen von Kindern und jungen Menschen sind das Brandenburgische Viertel und die Stadtmitte, während "eine hohe Überalterung in Finow, Nordend, Ostende und Westend" besteht, so die Stadtplaner.
Weiterhin wurde angenommen, daß sich die Zahl der Geburten kontinuierlich verringern werde, sodaß die Eberswalder Alterspyramide auf dem Kopf stehe, mit einem sehr großen Anteil von Rentnern im Jahre 2030.
Fokus auf die Innenstadt
Die Stadtplaner resümierten 2014:
"Die Innenstadt bleibt Aufwertungsschwerpunkt, um den Sanierungsprozess fortzusetzen und weiteren Bevölkerungszuwachs zu generieren. Eberswalde kann mittlerweile auf 20 Jahre Stadtsanierung zurückblicken - und hat damit große Erfolge im Hinblick auf die Wiedergewinnung der Stadtmitte, die Steigerung der Attraktivität und Anziehungskraft und die steigende Nachfrage 'nach der Mitte' erzielt." (INSEK Seite 58)
Für die Stadtteilplanung wurde folgendes Szenario angenommen:
Für die meisten Stadtteile werden 2014 starke natürliche Bevölkerungverluste prognostiziert, während man in der Stadtmitte von Zuwanderung ausgeht und im Brandenburgischen Viertel (Finowtal) von Abwanderung. Entsprechend der Prognosen standen vor 5 Jahren u.a. folgende Gebiete unter Beobachtung in Bezug auf den Stadtumbau: Finow-Ost, Kopernikusstraße, Brandenburgisches Viertel, Wildparkstraße, Heegermühler Straße, Schöpfurter Straße, Eisenbahnstraße und Leibnizviertel.
Der Wohnungsleerstand in einzelnen Straßen wurde genau registriert:
Der Wohnungsmarkt
"Die Stadt Eberswalde hat im Jahr 2009 den privaten Wohnungsbestand und -leerstand durch eine Vor-Ort-Begehung adressscharf erhoben und erhält jährlich mindestens von den beiden großen Wohnungsmarktakteuren WHG und WBG adressscharfe Wohnungsmarktdaten für das Stadtumbaumonitoring übermittelt. Etwa 50 % des Gebäudebestands sind Einfamilienhäuser (3.323 WE) und weitere 10 % Zweifamilienhäuser (1.244 WE). Damit befinden sich knapp 80 % der Wohnungen (18.639 WE) in Mehrfamilienhäusern.
Der Anteil der Wohnungen, die überwiegend im industriellen Wohnungsbau der DDR errichtet worden sind (Baujahr 1969-1987), macht ca. 37 % aus. Dies ist deutlich weniger als z. B. in Bernau (47 %) und in den kreisfreien Städten Frankfurt/Oder (53 %), Cottbus (54 %) und Potsdam (43 %). Vom gesamten Wohnungsbestand entfallen etwa 3/4 der Wohnungen auf die Kategorie 'vollsaniert/neu' bzw. 'saniert', 12 % der Wohnungen sind als 'teilsaniert' und 11 % der Wohnungen als 'unsaniert' einzustufen sowie 3 % des Wohnungsbestands als 'baufällig/ruinös'."
(Meldung des Bestands von 23.659 WE im Rahmen des LBV-Stadtumbaumonitoring für das Jahr 2012, davon 11% Leerstand, INSEK Seite 65/66)
Die Entwicklung der Nettokaltmieten von 2009 bis 2013 stellte sich in folgender Abbildung dar. Wie man sieht, hat der Anteil an günstigen Mieten unter 4 EUR/qm stark abgenommen. Die Konzentration erfolgte 2013 im Bereich um 5 bis 6 EUR je Quadratmeter.
Für die einzelnen Stadtteile wurden unterschiedliche Anpassungsstrategien erarbeitet:
In der Wohnungsmarktprognose (entsprechend Leitbild) stellten die Planer 2014 fest, daß
- der rechnerische Wohnungsleerstand sich bis 2020 auf rd. 2.930 WE (Anstieg um rd. 260 WE) und bis 2030 auf rd. 4.230 WE erhöht (Anstieg um rd. 1.560 WE).
- die Leerstandsquote bis 2020 auf 12,4 % und bis 2030 auf 18,4 % ansteigt.
- die Effekte des bisherigen Stadtumbaus nach 2020 - ohne Fortsetzung des Stadtumbauprozesses und unter Berücksichtigung von Prognoseunsicherheiten - somit wieder "verpuffen" würden.
- der Ausblick in das Jahr 2030 verdeutlicht, dass sich die Wohnungsleerstands- entwicklung als sehr gravierend für den Wohnungsmarkt darstellen wird und weitere Maßnahmen zur Anpassung des Wohnungsbestands an künftige Nachfrageentwicklungen zur Konsolidierung des gesamtstädtischen Wohnungsmarkts erforderlich sind. (INSEK Seite 77)
In dieser Prognose erwartete man einen Anstieg des strukturellen Wohnungsüberhangs bis 2030 auf 3542 Wohneinheiten - ohne Stadtumbau. Interessant an dieser Stelle ist die Fluktuationsreserve für den Eberswalder Wohnungsmarkt, wie sie von der Stadtplanung verfolgt wird: Mit 3% vom Bestand entspricht sie ziemlich genau den 3% des Wohnungsbestandes, der als "baufällig/ruinös" eingeschätzt wird [siehe oben]. Wie das in der Praxis funktionieren soll, wenn es keinen Wohnungsüberhang mehr gibt, bleibt ein Rätsel der Stadtplanung.
In der Gesamteinschätzung des Wohnungsmarkts ergab sich für die Planer diese Analyse:
Schwerpunkte des Stadtumbaus
Daß sich der "Stadtumbau", wie der Abriß vornehm bezeichnet wird, nicht ohne Konflikte durchführen ließe, war den Stadtplanern von vornherein klar:
"Das Agieren im Spannungsfeld Rückbau vs. Niedrigpreissegment bzw. Rückbau vs. Neubau ist unvermeidbar
- einerseits Rückbauerfordernis angesichts der demografischen Entwicklung mehrheitlich in preiswerten un- bzw. teilsanierten Beständen
> der Rückbau von Wohnraum muss städtebaulich, wohnungswirtschaftlich und sozialpolitisch vertretbar sein
- andererseits Neubaubedarf (insb. EFH / ETW mit multifunktionaler Raumnutzung, Freiraumbezug, in ausgewählten Lagen und teils eigentumsorientiert) zur Angebotsverbesserung in diesen Marktsegmenten
- Angebotsüberhänge und Rückbauerfordernisse dürfen bedarfsgerechten Neubau nicht ausschließen
> Angebotsvielfalt durch Neubau verschafft Stadtumbaupartnern Kraft für erforderlichen Rückbau"
(INSEK Seite 76)
Der Wohnungsrückbau erfolgte im Zeitraum 2002 bis 2012 in diesen Dimensionen: Stadtmitte (230), Westend (38), Finow (148), Brandenburgisches Viertel (1227), Nordend (184) und Ostende (36). Über die Jahre verteilt, ergab sich folgendes Gesamtbild:
Zur "Konsolidierung des gesamtstädtischen Wohnungsmarkts" war geplant, von 2013 bis 2020 insgesamt 631 Wohnungen abzureißen, und von 2021 bis 2030 sogar noch einmal 1500 WE. Dies sollte geschehen, wie schon erwähnt, in Übereinstimmung mit dem Leitszenario und der zugrundeliegenden "optimistischen Prognose".
Wie aus den vorangegangenen Daten leicht ersichtlich ist, war das Brandenburgische Viertel der Schwerpunkt des Stadtumbaus und daran sollte sich aus Sicht der Stadtplanung nichts ändern:
"Den räumlichen Schwerpunkt des bisherigen Stadtumbaus im Sinne von Rückbau von Wohnungsbeständen bildete das Brandenburgische Viertel. Auch unter Bezug auf die aktuelle Leerstandssituation und die Prognosen der Bevölkerungs- und Wohnungsmarktentwicklung für das Brandenburgische Viertel wird der Stadtteil auch in Zukunft maßgeblich von weiteren Rückbauvorhaben geprägt sein, sofern der Wegzug anhält. Mittelfristig wird dazu in Finow-Ost der Stadtumbauprozess einsetzen, um eine positive Quartiersentwicklung zu gewährleisten." (INSEK Seite 81)
Die adressscharfe Umsetzung erfolge schrittweise in enger Abstimmung mit den Eigentümern, während sich das Rückbautempo auf einem geringen Niveau einpendeln wird, so die städtischen Planer. Die Schwerpunkte des Abrisses würden sich im 3. und 4. Bauabschnitt des Brandenburgischen Viertels befinden, siehe Abbildung:
Die tatsächliche Entwicklung
Die optimistische Variante des Leitbildszenarios ging von 38.470 Einwohnern für Eberswalde im Jahr 2020 aus. In Wirklichkeit gab es keine fallende Tendenz mehr, sondern das Gegenteil, so daß zum 31. Dezember 2018 in Eberswalde 41.547 Bürger gezählt werden konnten (MOZ vom 31.1.2019). Das sind ca. 3000 Einwohner mehr als geplant. Wie konnten die Planer sich so verrechnen?
Zwei Faktoren spielten für diese Entwicklung eine Rolle: zum einen der große Flüchtlingsandrang in Zusammenhang mit dem Syrienkrieg und dem zeitweisen Aussetzen der Dublin-Asylbestimmungen, und zum anderen die extreme Steigerung der Wohnkosten in der Metropole Berlin, die viele sozial Schwächere nach Brandenburg ziehen läßt. Jährlich, so Brandenburgs Ministerin Schneider, verlassen Berlin Einwohner in Richtung Umland in der Größenordnung einer Kleinstadt - nämlich 30.000 Menschen (Berl. Zeitung vom 16. Oktober 2018).
Dies machte sich auch in Eberswalde bemerkbar. Während man zum Beispiel in Westend von Schrumpfung ausging, herrscht dort jetzt Vollvermietung. Auch im Brandenburgischen Viertel wurde der Schrumpfungsprozess gestoppt. Der geplante Abriß von Wohnblöcken in der Potsdamer Allee konnte so verhindert werden.
Und trotzdem - das kann man hier keinem Einwohner erklären - kommt es in diesen Tagen zum erneuten Rückbau von zwei Wohnblöcken mit Leerstand, um den Wohnungsmarkt in Eberswalde weiter zu "konsolidieren". Das jedenfalls fordern die Kreditgeber. Es ist ein wohnungspolitischer Spagat.
Was schon Bertolt Brecht zum Thema "Planung" sagte, werden wir auch in Teil 2 der EBERSWALDER KONZEPTE untersuchen, nämlich über das Programm "Soziale Stadt" im Brandenburgischen Viertel. Demnächst auf dieser Seite ...
(*) die Seitenangaben beziehen sich auf das Integrierte Stadtentwicklungskonzept INSEK 2014 (Korrekturfassung), welches am 24. April 2014 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde. Hier zum PDF-Dokument
(jg) - 3. Februar 2019
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