Katzenfotos und -videos sind der Renner im Internet ...
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Die Verdummung der Welt
Wann haben Sie das letzte Mal ein Buch gelesen, oder eine Zeitung? Nein, ich meine nicht die mit den großen Buchstaben
für Sehbehinderte, sondern eine richtige Zeitung. Eine, deren Obzession es nicht ist, einen tragischen Unglücksfall wieder
und wieder hochzuwürgen. Eine Zeitung, bei der man das Gefühl hat, selber denken zu dürfen und bei der kein vorgekautes
Klischeebild nach dem anderen serviert wird. Gott sei Dank gibt es noch solche Zeitungen!
Und Gott sei Dank gibt es noch das Internet! Auch wenn man meinen möge, es sei unter der Masse von Facebook-,
Twitter- und Whats-App-Meldungen verschwunden. So leicht es mir fällt, im privaten, auf diese genannten Zeitkiller
zu verzichten, so kann ich es doch nicht in dieser Betrachtung. Sie sind mittlerweile too-big-to-ignore.
Früher schrieb man sich persönlich E-Mails, mit einem Betreff und wohlformulierten und - durchdachten Worten.
Auf keinen Fall wollte man den anderen verletzten, denn gerade in der nonvisuellen Kommunikation passieren schnell
Mißverständnisse. Heutzutage postet man einfach seine täglichen Ergüsse auf dem »sozialen Netzwerk«, und schwuppdiwupps,
erhalten sofort sämtliche vierhundertdreiunddreißig Freunde darüber Meldung. Man freut sich über ein paar Likes,
und wenn es hoch kommt, läßt sich jemand zu einem Kommentar herab.
Die meisten Likes lassen sich durch niedliche Katzenvideos erzielen; aber auch Hundewelpen, Mäuse, Ratten und
fliegende Omas erzielen hohe Aufmerksamkeitseffekte. Für die Mädchen gibt es die neuesten Schminktipps und für die
Jungen eine Videoanleitung, mit welchem Trick man am Monster der Unterwelt vorbeigelangt. Nebenbei erfährt Facebook,
für welche Musik, für welche Filme, für welche Nachrichten, für welche Werbung und für welches Geschlecht sich der
Nutzer interessiert. Das wird sorgsam in riesigen Datenbanken in Kalifornien (USA) gespeichert und repräsentiert
den eigentlichen Wert des Unternehmens.
Doch es gibt noch eine Welt jenseits von Facebook, ja sogar jenseits von Google. Hat man schon vergessen, daß sich
im Browser Lesezeichen anlegen lassen, mit denen man seine Lieblingsseiten sammeln, ordnen und aufrufen kann,
ohne daß es irgendein Internetkonzern mitbekommt? Die unendliche Fülle des Netzes ist für einen einzelnen Menschen
sowieso zu groß. Man muss sich konzentrieren, und beschränken! Nur durch Reduktion erhält man seine Freiheit zurück.
Das gilt für das Internet, wie auch für das richtige Leben.
Man könnte recherchieren, warum sich die Große Koalition ausgerechnet immer an Sonntagabenden zu wichtigen
Konsultationen traf, während man die Woche über nichts vom Kanzleramt hörte. Wenn man Zeitung läse, könnte man
erfahren, daß sich zu jedem Zeitpunkt ca. 900.000 Menschen in der Luft, über den Ozeanen und Kontinenten in
Flugzeugen befinden - das sind umrechnet ca. 9.700 Bundesbürger. Wenn man ein Buch lesen würde, vielleicht sogar
eins aus dem vorvorherigen Jahrhundert, könnte man in eine andere Welt, in andere Gedanken und Weltbetrachtungen
eintauchen, und eine menschliche und moralische Größe erfahren, hinter der Katzenvideos und Twitter-Accounts nur
als banaler Kinderkram erscheinen.
Und doch: Sei die Zeitung noch so seriös, sei das Buch noch so lesenswert, der beste Moment ist der, wenn man das
Buch zuklappt und sagt: »Geschafft!«. Der Moment, wenn man ein halbes Kilo durchgearbeitetes Zeitungspapier
zusammenknüllt und zum Altpapier gibt. Weg damit! Weiche von mir! Mit der Trennung gibt man sich die Freiheit
wieder - und das sollte man auch gerade beim Internet bedenken, dem unendlichen Schlund der Menschheit ...
Jürgen Gramzow - 10. Juli 2016
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