Der 9. November in der deutschen Geschichte
1918 siegte an diesem Tag die Revolution in
Berlin. Fünf Jahre später putschte Hitler in
München. 1938 war das Datum dann offensichtlich bewußt gewählt für das deutschlandweit in Gang gesetzte Pogrom an den jüdischen
Mitbürgern. Der sogenannte »Mauerfall« vor
30 Jahren war aktuell mal wieder das Mainstreamthema. Nähme man den 9. November 1799 (»18.
Brumaire« NAPOLEON BONAPARTES) und den 9.
November 1848 (Erschießung ROBERT BLUMS
in Wien) hinzu, so lasse sich der 9. November
als ein Symboldatum für den Kampf zwischen
Fortschritt, Gleichheit und Frieden einerseits
und Reaktion, Kapitalismus und Unterdrückung andererseits charakterisieren, meint
der Berliner Historiker HOLGER CZITRICH-
STAHL. Nach diesem setzte Napoleons Staatsstreich faktisch den Schlußpunkt der Großen
Französischen Revolution, während im Jahr
nach der Erschießung Blums in ganz Europa
die Niederlage der Europäischen Revolution
von 1848/49 Realität wurde. Gegen die uneingelösten Forderungen der Novemberrevolution
von 1918 wie Sozialisierung, Entmilitarisierung, soziale Gerechtigkeit, ein demokratisches
Arbeitsrecht sowie Wirtschaftsdemokratie und
die sie tragenden Bewegungen zielten die Angriffe der deutschen Faschisten vom November
1923. Das Novemberpogrom 1939 war dann
schon ein Schritt in den nächsten Weltkrieg.
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Diese Ambivalenz haftet auch dem 9. November 1989 an. Nach der Grenzöffnung
schlug das Aufbegehren gegen Verkrustung
und Bevormundung, das eine autochthone demokratische Entwicklung in der DDR in Gang
gesetzt hatte, um. Aus dem revolutionären Ruf
»Wir sind DAS Volk« wurde das nationalisti-
sche, um nicht zu sagen völkische »Wir sind
EIN Volk«. Die Revolution in der DDR verkam
zum Anschluß an die BRD samt flächendeckender Wiedereinführung des Kapitalismus
in Deutschland und Europa oder tatsächlich
zur Konterrevolution, die manche schon im
Aufbegehren gegen den damaligen Real-Sozialismus sehen.
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Schon allein die Folgen dieser Umwälzungen
zeigen, so Czitrich-Stahl, daß es hier um die
Fortsetzung der fundamentalen Auseinandersetzung seit der Französischen Revolution und
Napoleons Code Civil und ihren Gegnern
geht, damals Royalisten, heute Nationalisten.
Leider wird jede Diskussion darüber, inwieweit tatsächlich von einer »Wiedereinführung«
des Kapitalismus die Rede sein kann – also zur
Frage, ob der »Realsozialismus« der DDR und
anderswo vielleicht doch bloß eine andere
Spielart der kapitalistischen Produktionsweise
oder irgendeine Stufe des Übergangs repräsentierte – dadurch erschwert, daß nun auch das
30jährige Jubiläum des »Mauerfalls« bloß Anlaß ist, weiter mit der DDR abzurechnen. Das
hat vor allem zur Folge, daß wirkliche inhaltliche Kritik am »Realsozialismus« der DDR, die
dazu dienen kann, aus der Geschichte zu lernen, stark behindert wird.
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Insofern ist das permanente »Mauerfall«-Jubilieren, dem auch in Eberswalde gefolgt wird,
eine erfolgreiche Strategie, um ein Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus zu behindern. Die Beschwerden mancher darüber,
daß viel Frust- und Protestpotential von braunen Rattenfängern aufgesammelt wird, erscheint von daher als eher scheinheilig. Die
Förderung von Nationalismus paßt vielmehr
ganz gut ins herrschende Konzept, also ins
Konzept der Herrschenden. Diese differenzieren sich freilich selbst in verschiedene einander
befehdende Fraktionen, sind also keineswegs
über einen Kamm zu scheren oder zusammen
mit diversen kleinbürgerlichen Schichten als
»eine reaktionäre Masse« zu charakterisieren,
wie das einst FERDINAND LASSALLE tat.
Insofern mahnt das Symboldatum vor allem
eines an – Vergangenheit und Gegenwart
gründlich zu analysieren, um Wege in eine
menschliche Zukunft zu erkennen.
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